Hallo,
ich bin’s. Johnny.
Den Namen Johnny habe ich mir selbst ausgesucht, als ich mit 14 Jahren, also 1978, meine erste Band gegründet habe. Diese Band hieß “System”, und hier gibt es ein Video aus dem SO36, es stammt aus dem Jahr 1981 oder so, da war ich schon fast volljährig. Bitte die Interview-Parts mit Christopher vorspulen, ich weiß es doch auch nicht, ich hatte keine Ahnung, dass das überhaupt gefilmt wurde. Solche Zeiten waren das.
Durchgesetzt hat sich mein neuer, selbstgewählter Name damals nur sehr langsam durch jahrelanges Daraufbeharren und das sture Ignorieren von Häme und Gelächter. Man muss Johnny sein wollen, wenn man Johnny ist.
Ich hatte mich für “Johnny” entschieden, weil mein Geburtsname Jörg mir eher wie ein Geräusch vorkam, jedenfalls nicht wie der Name eines angehenden Rockstars. Und ich weiß gar nicht, ob ich das jemals meiner Mutter erklärt habe. Glaube nicht. Ich hatte aber zwischendurch, als sich “Johnny” dann endlich etabliert hatte, auch mal kurz ein schlechtes Gewissen, weil es für eine Mutter ja auch ein wenig schmerzhaft sein muss, wenn der eigene Sohn den liebevoll ausgesuchten Namen ablegt. Aber irgendwann hatte selbst sie sich an “Johnny” gewöhnt, wird also insgesamt schon irgendwie okay gewesen sein. Die Namensänderung war vermutlich ihre geringste Sorge damals. Heutzutage stehen beide meiner Vornamen im Ausweis, eine Win-Win-Situaton für alle Beteiligten. Auch wenn es in der Kombination nicht sehr rockstarig klingt, aber das ist ja auch nicht mehr nötig.
Der allererste Gig von System fand 1979 in einer Transvestiten-Bar in der Bundesallee statt (gibt’s nicht mehr, den Club, die Bundesallee schon). Und obwohl der Spaß am Tragen der stereotypischen Kleidung eines anderen Geschlechts im binären Spektrum nicht zwingend etwas mit Homosexualität zu tun hat, war die Bar schon ziemlich gay. Eigentlich war es, glaube ich, eine Schwulenbar, die ab und zu Transvestiten-Abende veranstaltete. Und der Betreiber (oder jemand, der zufällig den Schlüssel hatte) war der erste Mensch, der unserer wirklich grottenschlechten Band eine Chance gab. Ich habe keine Ahnung mehr, wie es zu dem Gig gekommen ist, ich glaube tatsächlich, dass wir an einem Nachmittag beim Herumstreunen aus reiner Neugier einfach in den Laden geschaut und gefragt haben, ob wir da spielen könnten, und die haben sich gedacht, ach komm, wir haben ne Bühne, die wollen kostenlos Musik machen und bringen ein paar Leute mit, lass machen. Wird bestimmt lustig.
Und das war es dann auch. Rückblickend betrachtet, denn das ganze Setting hätte absurder kaum sein können. Wir hatten nicht mehr als vier Songs “eingeübt” und an den Abenden zuvor ein paar Punkrocker überredet, zu unserem ersten Konzert zu kommen. Nur wenige waren der Einladung gefolgt, es waren höchstens acht schon leicht angeklingelte Punks im Publikum. Dazu kam die Belegschaft des Clubs, die das Geschehen vorerst amüsiert aus einiger Distanz verfolgte. Insgesamt waren da also keine zwanzig Leute, allesamt mit auf unterschiedliche Art interessanten Frisuren, und entweder mit besprühten Lederjacken und Springerstiefeln oder Federboas und High Heels ausgestattet. Es war super.
Trotz des gemeinsamen Nenners “Subkultur”, und obwohl klar war, dass uns eine Andersartigkeit verband, beäugten sich alle Anwesenden anfangs so neugierig wie vorsichtig. Und ich kann mich an keine einzige anwesende Frau erinnern, aber das kann auch daran liegen, dass der Abend verdammte 44 Jahre her ist.
Ich war jedenfalls aufgeregt und unsicher wie Sau. Daran erinnere ich mich. Ich war wohl doch noch nicht so richtig Johnny.
Wir spielten unsere schlechten Instrumente schlecht, und alles andere war auch nicht gut. Das vermittelten uns die “Schneller! Härter! Lauter”-Rufe der Punker nach jedem Song. Aber wir konnten nicht schneller, wir konnten auch nicht härter, und für lauter waren unsere Amps zu klein.
Das Konzert, wenn man es denn so nennen konnte, war schnell vorbei, obwohl wir jeden Song unbemerkt zweimal gespielt hatten, und das eigentlich nicht sonderlich kritische Publikum war keineswegs überzeugt. Ich war froh, dass wir keinen Eintritt verlangt hatten, den wir hätten zurückzahlen müssen, aber wir waren nicht verprügelt worden, verbuchten unser Debüt also als Erfolg.
Außerdem hatte sich bei allen Anwesenden die erwähnte Skepsis untereinander gelegt, die Kombination aus schlechter Musik und ebenso minderwertigem Alkohol wirkte auch damals schon verbindend, und die überschaubare Gesellschaft war zu einer kleinen Party geworden. Ich selbst habe übrigens – kein Scheiß – erst wesentlich später Gefallen an Alkohol et cetera gefunden, ich war zu der Zeit völlig auf die Band, auf Musik fokussiert, alles andere hätte mich viel zu sehr abgelenkt. Und irgendwer musste sich ja um den Rücktransport unserer viel zu leisen Verstärker kümmern.
Aber ich fand es interessant, Menschen beim Kontrollverlust zuzusehen. Das änderte sich dann später, wenn der Verlust überwog, aber ich schweife ab.
Erinnern kann ich mich noch daran, dass sich die ganze Sache dann doch relativ zügig auflöste, es gab sicher woanders noch ein schnelleres, härteres, lauteres Konzert, und die Schnittmenge zwischen Gays und Punks war dann zumindest in dieser spezifischen Runde doch nicht so groß, wie von manchen vielleicht erhofft. Der einzige mir bewusste Knutschversuch eines der Punker mit einem der Club-Mitglieder war gescheitert, der Punkrocker hatte gedacht, dass sein Gegenüber eine Frau sei, war er aber nicht, es kam zu großer Überraschung, ein wenig Empörung und letztendlich viel Gelächter auf beiden Seiten. Naja, dann eben nicht. Tschüssi!
Der nächste Gig von System war ähnlich kurios, er fand am 12. Juli 1980 im “Jazzkeller” statt, wir waren die sehr spontane Vorgruppe einer Band, die wir nicht kannten, deren Name aber auf Punk oder etwas ähnliches hindeutete: Einstürzende Neubauten. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ich wusste beim Tippen nicht, warum ich euch das schreibe, ich habe einfach losgelegt und meinen Spaß an den Erinnerungen gefunden. Und nun auch an den Überlegungen dazu, viereinhalb Jahrzehnte später.
Überlegung 1: Wie war das eigentlich mit meinen Eltern? Ich hatte bestimmt erzählt, dass wir ein Konzert spielen werden, ich habe bestimmt auch später davon berichtet. Und bestimmt ein paar Details unerwähnt gelassen. Mein Vater hat aber sowieso alle Stories immer gerne gehört und sich köstlich amüsiert, wie Bolle quasi, denn er war gebürtiger Berliner und hat auch mal den ein oder anderen Schwank aus seiner Jugend zum Besten gegeben. So war er angeblich 1958, also mit 16 Jahren, beim berüchtigten Bill-Haley-Auftritt im Sportpalast dabei. Ich weiß aber bis heute nicht, ob das wirklich stimmt und kann ihn leider nicht mehr fragen. Hier gibt es sensationelle, leider stumme Bilder von dem Gig, hier einen Radio-Rückblick und dann noch diesen ebenfalls sehr tollen Original-Bericht über die Unruhen beim Stuttgarter Tourabschluss im gleichen Jahr. Na jedenfalls: Mein Vater war immer recht entspannt, was meine Eskapaden betraf, und er beruhigte meine Mutter, die eher sorgenvoll auf diesen ganzen Punkmusikkram schaute.
Es gab später noch einige nächtliche Ereignisse, die meine Eltern nur halb oder gar nicht mitbekommen haben. Aber mir ist nie etwas Schlimmes zugestoßen.
Überlegung 2: Homosexualität, Lebensentwürfe außerhalb der gängigen Muster, Menschen aus mir fremden Kulturen und mit anderen Interessen waren Teil meiner Sozialisierung in Westberlin, der Stadt, in die alle Künstler*innen und Freaks flüchteten, um dem Wehrdienst zu entkommen (für die beiden Jüngeren unter euch: Wer seinen Wohnsitz in Westberlin hatte, musste keinen Wehrdienst absolvieren). Die frühen Kontakte zur Subkultur waren nicht durch mein Elternhaus entstanden, das weder künstlerisch noch auch nur ansatzweise akademisch geprägt war, sondern durch die Musik, die Clubs, das Herumirren in der Stadt. Durch die Neugier und auch die Freiheiten, die ich genoss. Meine Eltern waren und meine Mutter ist auch heute noch tolerant, gerechtigkeitsliebend, menschlich, großherzig, dennoch bin ich sicher, dass ihr nicht alles gefallen hätte, was ich so getrieben habe. Trotzdem war Toleranz und Verständnis wichtig bei uns zuhause. Einer meiner ersten wirklich guten Freunde war etwas älter und recht eindeutig schwul, was meine Eltern auch mal nebenbei feststellten, aber das war’s dann. Keine Ängste oder Sorgen, keine Fragen, und erst recht keine Ablehnung. Extrem cool, so rückblickend betrachtet. Was mich zu
Überlegung 3 führt. Natürlich leben wir heutzutage in ganz anderen Zeiten. Internet und so. Viel mehr, viel größere Autos, viel mehr Menschen. Viel mehr Drogen (vielleicht auch viel schlechtere, ich weiß es nicht), viel mehr Versuchungen, Hypersexualisierung überall.
Dennoch glaube ich, dass das geradezu hermetische Abschirmen junger Menschen vom erwachseneren Teil der Gesellschaft grundlegend falsch ist. Dass Dauerkontrolle und Frühkarrierisierung von Kindern und Jugendlichen zu ungesunder (auch Online-) Isolation führt, vor allem aber zu weniger Erfahrung, die im weiteren Verlauf des Lebens fehlen kann. Wenn dein Leben bis zum Alter von 26 Jahren in erster Linie aus deinem Zuhause, der Schule und der Uni besteht, fehlt ein wichtiger Einblick in das Leben der anderen, das du nicht teilen oder gar toll finden musst. Aber es zu kennen, kann sehr hilfreich sein. Zu mehr Toleranz, zu mehr Empathie führen. Zu mehr Wissen, zu mehr Weitsicht. Vielleicht sogar tau weniger Hass. Es fehlen Räume der sozialen Begegnung außerhalb von Social Media, in denen verschiedene Generationen und unterschiedliche Lebenshintergründe aufeinandertreffen. Und miteinander klarkommen müssen.
Solche Räume waren z.B. auch mal Kneipen, und ja, ich weiß, da wurde geraucht, geflucht, gesoffen, viel Unsinn geredet. Da gab es schlechte Vorbilder en masse. Aber auch gute. Man konnte andere Menschen ganz in echt erleben und kennenlernen. Es waren Mikrokosmen, Kleinstgesellschaften voller Zufälle, Ungewöhnlichkeiten, Überraschungen, Tränen und Gelächter. Voller Leben eben. Und ich bin sicher, dass es Wege gäbe, den Rauch einzuschränken und den Alkohol nicht an Minderjährige auszuschenken, diese Räume also relativ sicher zu machen. Aber ich bin auch überzeugt davon, dass solche Räume der Generationen- und Kulturbegegnungen fehlen. Wer sich darüber beschwert, dass Menschen unter 18 Jahren “nur noch vorm Smartphone und Netflix abhängen”, muss sich die Rückfrage gefallen lassen: Wo denn sonst?
Es muss ja nicht die Kneipe sein. Aber irgendetwas, das keine Shopping Mall ist.
Bestimmt habe ich eine zu romantische, etwas verklärte Sicht auf die Dinge, und einen Weg zurück gibt es sowieso nie, was solche Dinge angeht. Dann müssten wir uns aber langsam mal Gedanken darüber machen, wie der Weg nach vorne aussehen soll, wenn wir nicht in fünf Jahren alle nur noch hinter unseren Mixed-Reality-Brillen sitzen und andere beschimpfen wollen.
Nächstes Mal gibt’s dann vielleicht wieder ein paar Links. Wer weiß das schon. Es sind unsichere Zeiten. Bleibt positiv, aber gesund.
Hier sind zwei Spendenmöglichkeiten zur Erdbebenkatastrophenhilfe:
"... mir eher wie ein Geräusch vorkam", ach ach, ich mag, wie Du schreibst, aber das klingt auch bald wie ne kaputte Schallplatte. Ich mag auch Deine Überlegungen, danke fürs Teilen. Musste an einen meiner ersten Berlin-Ausflüge denken und an das Gefühl "Endlich fall ich mal nicht auf wie der sprichwörtliche bunte Hund", was schräg ist, weil ich genau deshalb ja aussah, wie ich aussah, und doch. Eine Pause vom Angegucktwerden tut schon auch mal gut. Schön zu beobachten war, wie der eine Punker in meiner Klasse dort aufblühte. Wenn Sub etwas weniger Sub wird ...
Die Überlegung, wie viel von dem, was ich dachte, dass sie wüssten, meine Eltern tatsächlich wissen/wussten, hatte ich schon häufiger. Wussten sie weniger? Mehr? Eher mehr, vermute ich. Hm. Und sie haben's mitgemacht, wow. Überhaupt dieses "Ich werde in vier Jahren so alt wie mein Vater auf dieser einen, dieser bestimmten Feier war". Wann ist Mensch erwachsen? Wann sieht es nur so aus?
Jedenfalls: Das habe ich wie immer gern gelesen.
Wie schreibe ich jetzt, dass ihr ja mal süß ward, ohne zu schreiben, dass ihr ja mal süß(weil Punk und so)...