Moin!
Das war eine spannende Ausgabe #44 letzte Woche, denn binnen weniger Minuten nach dem Aussenden trudelten die Abo-Kündigungen ein. Nicht wahnsinnig viele, aber schon eine auffällige Zahl. Und ich war darüber natürlich ein wenig erschrocken. Hatte ich jemanden beleidigt? War ich zu langweilig? Überforderte ich nach so langer Pause meine Leserinnen? Hatte Christian Lindner etwas damit zu tun, war ich mal wieder zu langsam gefahren?
Es passieren bei einem Newsletter konstant einzelne Ab- und Anmeldungen, das ist normal, aber das war schon eine etwas merkwürdige Anhäufung.
In den folgenden Tagen drehte sich das Ganze dann um und es trafen plötzlich spürbar viele neue Anmeldungen ein. Was mich natürlich freute. In der Summe ist die Zahl der Leser*innen dieses Newsletters dann leicht angestiegen, aber trotzdem: Was war da los?
Ich habe keine Ahnung (ein Satz, den ich immer häufiger bemühen muss). Muss mir am Ende auch egal sein, ich freue mich einfach über diejenigen, die das hier gerne lesen.
Danke an dieser Stelle auch an Kaltmamsell und jawl für die netten Erwähnungen in ihren Blogs!
Okay. Erst ein Foto, dann geht’s los.
Wir starten mit einem sehr hübschen, acht Minuten kurzen Film namens Wot No Bike von 2015, einer Doku über den Clash-Bassisten Paul Simonon, der ja auch Maler ist, wie ihr alle wisst.
Ich dachte beim Anschauen: Ach, da hat ein Fan einen guten kleinen Film über Paul Simonon gemacht, wie nett. Und dann habe ich den Regisseur Baillie Walsh recherchiert (angeberisch für “gegoogelt”) und festgestellt, dass der Mann bereits mit Massive Attack und Springsteen gearbeitet und auch die Daniel-Craig-Doku “Being James Bond” gemacht hat. Außerdem habe ich über diese Recherche das ziemlich interessante Filmportal NOWNESS kennengelernt, mit dem ich mich garantiert noch näher beschäftigen werde:
NOWNESS is a movement for creative excellence in storytelling celebrating the extraordinary of every day.
Das klingt gut, finde ich. “Kreative Exzellenz im Feiern des Außergewöhnlichen im Alltag durch Erzählungen” ist ja schließlich auch der bisher unerwähnte Untertitel dieses Newsletters.
Noch ein bisschen Popkultur: Steve Birnbaum fotografiert die Plätze, an denen mehr oder weniger berühmte Plattencover oder Fotos entstanden sind. Das Foto oder das Cover hält er dann die richtige Stelle, fotografiert das Ganze erneut, und so ist das insgesamt eine schöne Idee, die man auf Instagram verfolgen kann:
Neulich habe ich ohne Vorkennntnisse die Kurzgeschichtensammlung “Zeremonie des Lebens” von Sayaka Murata gekauft. So ganz echt im Buchladen, mit Reingehen und so. Was ich nicht erwähne, weil ich so ein tapferer Antiamazontyp bin, sondern weil ich eigentlich tatsächlich gerne eBooks lese. Es nervt mich bei Papierbüchern, dass sie bei größerem Umfang schwer zu halten und / oder zu blättern sind, dass sie immer gutes Licht brauchen für Brillenträger wie mich, dass ich keine später wieder auffindbaren Markierungen machen kann, ohne ständig mit einem Stift oder kleinen Post-its hantieren zu müssen, und dass sie danach rumliegen, für immer an der gleichen Stelle im Regal stehen oder vorwurfsvoll viel zu lange auf ihre Weitergabe warten. Außerdem kann ich sofort Wörter nachschlagen, wenn ich z.B. auf Englisch lese. Oder was mit Fremdwörtern.
(Das alles gilt nicht für Fotobücher, die oft noch viel schwerer zu blättern oder gar zu halten sind, die sehr gerne rumliegen und die man ja nie weitergibt.)
Aber: Papierbücher sind einfach schöner. Ich verstehe, warum Menschen lieber “echte” Bücher lesen und ich kaufe manchmal auch welche, nur weil mir das Cover gefällt oder das Format oder das Papier oder der Satz, die Schrift, die ganze Haptik und Optik.
“Zeremonie des Lebens” ist mir zwar mal kurz im Netz begegnet, aber eigentlich habe ich es als Papierausgabe gekauft, um dem Verlag zu signalisieren, dass es sich lohnt, gute Cover zu machen. Denn die Cover der meisten in Deutschland erscheinenden Bücher sind einfach furchtbar. Wahrscheinlich würden Studien das Gegenteil belegen, aber angloamerikanische Buchcover empfinde ich fast immer als cooler, besser, liebevoller gestaltet. Das Cover von “Zeremonie des Lebens” ist kein künstlerisches Meisterwerk, aber es hat mich sofort angesprochen, irgendwie poppig, und es passt zum Inhalt. Was ich natürlich erst später wissen konnte.
Bevor Tanja und ich unser Teenager-Internet-für-Eltern-Sachbuch “Netzgemüse” veröffentlichten (das war vor … elf Jahren, jetzt ist der Knüller für 3,99 gebraucht erhältlich, lohnt sich aber nicht, weil weder Instagram-Stories noch TikTok noch Elon Musk darin vorkommen), stritten wir lange mit dem Verlag über das Cover. Wir wollten ein gut gestaltetes Cover, vor allem aber wollten wir wenigstens einen Jungen und ein Mädchen abbilden, aber der Verlag machte von seinem “Wir bestimmen das, steht im Vertrag, haben Sie den etwa nicht gelesen?”-Recht Gebrauch, denn “Der Vertrieb weiß genau, was sich verkauft”.
Wir dachten eigentlich nicht, dass Menschen, die Bücher kaufen, die so aussehen wie unser Buch, unser Buch kaufen würden, aber letztendlich hatten wir keine Chance und es war ja auch ein Sachbuch und kein Roman und vielleicht hatte der Verlag ja recht. Die Verkaufszahlen waren jedenfalls relativ gut. Unseren eigenen Qualitäts- und Stilansprüchen hatte das Cover nicht genügt, aber nun wollen wir mal nicht noch länger darauf rumreiten.
Na jedenfalls kann ich Sayaka Muratas Geschichten empfehlen. Sie schreibt absurd-komische und schräge, für manche vielleicht sogar ein bisschen “schockierende”, auf jeden Fall mutige Momentaufnahmen, die sich eigentlich immer mit der Frage beschäftigen, wie unsere Gesellschaft wohl wäre, wenn moralische und / oder ethische Grundsätze nur ganz leicht verschoben wären. Wenn die Welt, wie wir sie kennen, ein klein wenig anders wäre, als sie derzeit ist. Das ist spannend und macht echt Spaß. Ist also völlig anders als Twitter.
Nachdem wir die Verfilmung von “Weißes Rauschen” (Netflix) sehr klasse fanden, begann Tanja mit der Lektüre der Buchvorlage von Don DeLillo und zitierte daraus so begeistert, dass ich mir als eher seltener Romanleser, der schon bei der Angabe “1.000 Seiten” Beklemmungen spürt, erstmal einige Kurzgeschichten als eBook besorgte. Und die sind ebenfalls sehr toll und wunderbar merkwürdig. “Die Stille” hat eine großartige Grundidee und ist daher tatsächlich zu kurz, ich wünschte mir am Ende, es würde über wenigstens 300 Seiten weitergehen. Und die Sammlung “Der Engel Esmeralda” lohnt sich ebenfalls. Ihr kennt DeLillo wahrscheinlich alle schon lange, aber jetzt gebt mal nicht so an.
In Sachen Klimakrise interessiert mich ja überhaupt nicht, welcher Heiopei behauptet, dass es diese Krise gar nicht gäbe, oder ob Twitter-User “vaterland877651239” der Meinung ist, dass Protestkleber*innen lebenslänglich in Haft sollten. Mich interessiert allein, was im großen Rahmen zu tun ist, und wer es wie tut. Und ob es – z.B. in der Bundesregierung – irgendeinen Plan gibt.
Das mit dem Plan bezweifle ich ein wenig. Ich bin da natürlich etwas voreingenommen, ich habe die Jahre 2020 bis 2023 miterlebt, in denen mein allerletztes “Die wissen schon, was zu tun ist”-Gen verloren gegangen ist.
Dabei gibt es natürlich jede Menge Menschen, die Pläne machen und sie auch umsetzen.
Tomer Shalit ist einer davon. Der frühere “Consultant” (Englisch für: LinkedIn-Benutzer) präsentierte seinen Plan 2018 auf einem vier Meter breiten Poster dem schwedischen Umweltminister. (Na? Wer macht den Job in Deutschland? Richtig: Die in den Medien eher unterrepräsentierte Steffi Lemke ist Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz.) Und der schwedische Umweltminister, bei dem es nicht ganz so schlimm ist, dass ich seinem Namen nicht ohne Google weiß, war begeistert.
Aus dem Poster wurde die Website Panorama, Tomer Shalit gründete dafür das Unternehmen ClimateView, und das ganze System nannte er ClimateOS – das Betriebssystem fürs Klima. Im Grunde ist das Ganze eine in viele kleinere, einzeln umsetzbare, miteinander verknüpfte Bereiche heruntergebrochene und auf zahlreichen und ständig aktualisierten Datensätzen basierende Analyse und Visualisierung der für die Klimaziele nötigen Schritte inklusive der wirtschaftlichen Faktoren und Auswirkungen. Das war ein ganz schön langer Satz, der mittendrin auch etwas langweilig wurde, aber daraus ergibt sich dann, naja: Ein Plan. Ein ständig aktualisierter Plan für die Vorgehensweise, mit der Städte CO2-neutral werden können (der Plan bezieht sich in erster Linie auf Städte, weil diese für über 70% der Emissionen verantwortlich sind).
In Schweden verfährt man nun in vielen Städten nach diesem Plan, bis 2045 will das Land komplett klimaneutral sein und ist dabei auf einem vielversprechenden Weg. Aber auch andere Länder wie z.B. Deutschland machen mit. Baden-Württemberg ist an Bord. Kiel, Heidelberg, Lübeck, Essen, Mannheim und andere auch. Den Fortschritt von Dortmund kann man hier sehen. Und …
Wartet mal. Wieso nutzen einzelne Gemeinden das ClimateOS? Wäre es nicht sinnvoller, wenn alle gemeinsam an einem Strang … also wenn sich die Länder und der Bund … wenn quasi die Bundesregierung … also … Und wieso kann z.B. Mannheim sagen: Jau, wir machen das so, und andere sagen dann: Ja nee, wir machen das anders? Ist das nicht insgesamt wieder völlig … planlos?
Ich denke ja. Aber ich kenne ja den großen Masterplan der Bundesregierung auch nicht. Diese 179 Seiten betonen jedenfalls ausdrücklich, dass sie es nicht sind.
(Um fair zu bleiben: Auch in anderen Ländern sind es einzelne Gemeinden, die ClimateOS individuell nutzen. Das scheint also Teil des Plans zu sein, verstehen tue ich das dennoch nicht wirklich. Ich verstehe, dass die Umsetzung in einzelnen Gemeinden stattfinden muss, aber es müssten dann doch alle Gemeinden … naja.)
Für ein fröhliches und sehr lautes Ende dieser Ausgabe noch ein Musiktipp:
Es gibt ein neues Album der großartigen Fucked Up. Die kanadische Band mit dem extrem US-Radio-tauglichen Namen und schier unüberschaubarem Repertoire läuft unter “Hardcore”, das ist verständlich, aber auch irreführend, man muss das wirklich selbst kategorisieren. J. Mascis von Dinosaurier Jr. ist Fan, das mal als Anhaltspunkt.
Als Einstieg empfehle ich das Album David Comes to Life aus dem Jahr 2011, hier könnte man mit der Punk-Oper Queen of Hearts beginnen, einem Song, der mit einer hübschen kleinen Melodie anfängt, die sich mit eher gebrülltem Gesang zu immer wilder werdendem Punkrock hochschaukelt, um dann nach mehreren Minuten noch einen Refrain mit bittersüßem Chorgesang aus der Tasche zu zaubern. Irre. Am besten hört ihr euch erstmal das Original an (YouTube) und schaut erst danach das toll ungewöhnliche Video dazu.
Als nächsten Fucked-Up-Hit lege ich euch The Other Shoe ans Herz, hier beginnen die weiblichen Stimmen, das fast thrashmetallische Brüllen kommt hinzu und dann endet das Ganze in einem “Dyin’ on the Inside”-Chant. Auch sehr toll.
Fucked Up sind eine wirklich sehr außergewöhnliche Band. Und haben eben ein neues Album, das in Teilen etwas “poppiger” geworden ist und One Day heißt. Erste Anspieltipps sind I Think I Might Be Weird und das wirklich schöne, geradezu R.E.M.-hafte Cicada – hier sieht man im Video auch mal die Band.
Achtung, die Truppe ist ein Rabbit Hole im Internet, unendlich viele Songs und Videos und Liveauftritte und Radiosessions und und und … man kann sich darin verlieren. Dann wieder gibt es ja kaum schöneres, als sich in Musik zu verlieren. Also macht ruhig.
Und wenn ihr das Ganze und noch viel mehr mal von mir vorgespielt bekommen möchtet: Ich plane, morgen, also am Montag, den 20.2.23, mal wieder Radio Spreeblick zu machen. Live ab 20:30 Uhr auf mixcloud.com/spreeblick. Und ich freue mich, wenn ihr dabei seid.
Bleibt positiv, aber gesund!
Johnny.
Danke für deine wirklich tollen Newsletter!
Viele Grüße
Fabian
Hey Johnny!
Den Sonntag mit deinem Newsletter ausklingen zu lassen und zum Schluss die Vorfreude zu einer längst vermissten neuen Folge von Radio Spreeblick eingepflanzt zu bekommen, hinterlassen mich glücklich, danke!
Take care,
Bernhard