Hallo. Frohes Neues!
Doch, doch.
Das kann man sehr wohl noch wünschen.
Die letzte Ausgabe dieses Newsletters erschien vor etwa anderthalb Jahren. Fast genauso lange rauche ich nicht mehr. Und es lässt sich weder ausschließen noch sicher bestätigen, dass Zusammenhänge bestehen.
Außerdem bin ich seit einigen Monaten 60 Jahre alt, das hat mit meiner Schreibunfähigkeit zwar nur am Rande zu tun, ist aber erwähnenswert, weil meine Fresse. Sechzig. Damit muss ich erstmal klarkommen. Denn ich bin nun also offiziell alt. Und nun sitze ich hier und warte auf Weisheit.
Und darauf, dass sich diese ganzen körperlichen Verbesserungen endlich bemerkbar machen, die mir “schon nach kurzer Zeit als Nichtraucher” versprochen wurden. Bisher habe ich nämlich nur sichtbar zugenommen, alles andere ist eigentlich immer noch genau wie damals, als ich noch geraucht habe, nur ohne Rauchen. Der Raucherhustenreiz ist zwar weg, aber dafür habe ich jetzt einen Nichtraucherhustenreiz.
Ich bin also etwas unterwältigt, was die positiven Effekte des Nichtrauchens angeht, insgesamt ist es aber natürlich richtig und ich bin auch ein bisschen stolz darauf, nach 40 Jahren aufgehört zu haben. Und vielleicht entwickelt ja doch noch jemand unschädliche Zigaretten.
Großartiges Sinnieren darüber, wieso ich so lange nichts geschrieben habe (und warum ich es jetzt doch mal wieder tue), erspare ich uns allen, aber … Here’s The Thing: Man kann ja gar nicht so schnell tippen, wie alles immer bekloppter wird, ma löscht ja mehr, als man schreibt. Neulich habe ich “Hart aber fair” zur Wahl von Trump gesehen und war beeindruckt, dass sich alle Anwesenden um eine sachliche Debatte bemühten, ohne zwischendurch einfach festzustellen, was für eine riesige Shitshow voller komplett Durchgeknallter das zur Zeit alles ist. Ich erkläre mir das mit der lähmenden Fassungslosigkeit vieler Menschen gegenüber dem, was gerade passiert.
Also: What Are We Gonna Do Now?
Denn Oh Shit. Nicht mal Billy Bragg schaffte es, zum Jahresstart ein Posting mit wirklich positivem Ausblick zu verfassen, und da war ja die Sache mit Meta noch gar nicht passiert (Update: Update).
Immerhin aber bleibt Bragg seinem Mantra treu, bitte auf keinen Fall dem Zynismus zu verfallen, und selbstverständlich werde ich das auch nicht tun. Doch ich muss auch attestieren, dass uns der ganze Nichtzynismus ganz offenbar nicht vor Trump, Höcke, Weidel, Merz, Trump, Putin, Terror, Musk, Meta, Trump, der Klimakrise, Kriegen, Merz, Trump und diesem ganzen anderen Irrsinn schützt.
Vielleicht gerade noch so vor dem eigenen.
Vielleicht.
Schnitt.
Eine Tür geht auf, Nick Cave kommt reingeschlackst und setzt sich und seinen Chris-Kerr-Anzug in einen dieser Chesterfield-Ledersessel mit den etwas zu hohen Armlehnen, die sogar ihn ein bisschen albern aussehen lassen, als er seine Unterarme auf ihnen platziert, wofür er seine Schultern etwas hochziehen muss, was optisch den Hals verkürzt. Dann beginnt Nick Cave zu sprechen, und er tut es passend zum Sessel sehr bedacht.
Ich halte Nick Cave für einen der größten und wichtigsten Künstler, die uns Punk noch übrig gelassen hat. Obwohl seine Konzerte, von denen ich eines in 2008 doch noch so geliebt hatte, leider nicht mehr mein Ding sind. Ich erinnere mich an den Gig in der Waldbühne zehn Jahre später, den meine Liebste treffend als “Nick Cave – Das Musical” bezeichnete, während die jüngste Tour unter “Nick Cave – Die Messe” zu laufen schien, was aber natürlich wirklich, wirklich völlig egal ist und meinem Respekt vor dem Mann keinen Abbruch tut, denn soll er sich doch bitte über alle Maßen feiern lassen, sollen ihn doch bitte alle lieben, denn WEN DENN SONST?!
Das fantastische aktuelle Nick-Cave-Album Wild God bleibt außerdem eines der Highlights des vergangenen Jahres. (Die Vinylausgabe ist wegen des sehr festen Kartons des Sleeves übrigens 1cm breiter und höher als reguläre Vinyl-Cover. Das nervt zwar sehr, wenn man das Album wieder in die Hülle zurückschieben will, weil die Pappe so steif ist, aber natürlich ist es trotzdem sehr cool.)
Nick Cave jedenfalls spricht bedacht und baut weiterhin auf das Prinzip Hoffnung, diesmal in Form seines mit Avocado beschmierten Enkels, was mich lächeln lässt, und das passiert im Moment ja nicht so oft.
Und er erwischt mich.
Nick Cave erwischt mich dabei, beinahe die Hoffnung aufgegeben zu haben.
Das von Nick Cave in seinen Red Hand Files empfohlene Buch Der Geist der Hoffnung von Byung-Chul Han habe ich daher gekauft und gelesen. Und eigentlich ging es mir damit zunächst wie mit den anderen zwei, drei eher philosophischen Büchern, die ich mal angefangen habe: Mich langweilten die endlosen Wiederholungen, die endlosen Wiederholungen und die endlosen Wiederholungen, am meisten aber die andauernden Kritteleien an anderen Philosophen und ihren Werken (zitierte Philosophinnen sind auch bei Byung-Chul Han eine Ausnahme, Hannah Arendt taucht immerhin auf). Aber okay, offenbar muss das so sein in der Philosophieszene. Bei läppischen 128 Seiten (für 23 Euro weil Hardcover, come on, Ullstein) hielt ich also trotzdem durch, denn ich wollte wissen, ob das Buch etwas mit mir macht.
Und das tat es.
Ich glaube, dass ich “Hoffnung” nach 60 Lebensjahren und der Lektüre von Der Geist der Hoffnung frisch definieren kann. Und das macht mich zur Zeit ein bisschen … ja nun, “glücklich” wäre jetzt stark übertrieben, aber irgendwie … weniger verzweifelt. Weil ich meiner Hoffnung wieder vertraue und mich nicht für sie schäme, und das hilft mir im Moment.
Ich versuche mich hier an einer sehr kurzen eigenen Interpretation, für die Byung-Chul Han immerhin 23 Euro pro 128 Seiten nimmt, weil Hardcover:
Hoffnung ist nicht Optimismus im Sinne von “Es wird garantiert alles gut”. Hoffnung ist auch nicht Wünschen im Sinne von “Ich möchte, das alles gut wird”. Hoffnung bedeutet auch nicht, einfach davon auszugehen, dass etwas gut ausgeht.
Sondern Hoffnung ist der Glaube und die Überzeugung, dass nichts Zukünftiges gewiss ist, dass es also jederzeit alle Möglichkeiten gibt. Nicht nur die, die im Moment als sicher erscheinen. The Future Is nämlich, und da landen wir dann eben doch wieder bei meinen eigenen kulturellen Wurzeln: Unwritten.
Hoffnung ist also eher eine Geisteshaltung und sorgt damit für Orientierung. Hoffnung entsteht, so Byung-Chul Han, aus Verzweiflung, und sie ist laut Václav Havel “das Maß unserer Fähigkeit, uns um etwas zu bemühen, weil es gut ist, und nicht nur, weil es garantiert Erfolg hat”. Das finde ich gut.
Ohne Hoffnung handeln wir nicht mehr, ohne Hoffnung werden wir nicht mehr aktiv. Ohne Hoffnung hören wir also auf, Menschen zu sein.
Klingt das ein bisschen spirituell?
You bet.
Beginnt nun also meine “Slow Train Coming”-Phase?
Eher nicht.
Aber es hat mich schon beeindruckt, dass die einzige Person mit genügend sprichwörtlichen Eiern, um Trump am Tag seines Amtsantritts mal ein paar klare Sätze zu sagen, eine Bischöfin war.
Der Name der Bischöfin ist Mariann Edgar Budde, und wir dürfen niemals vergessen, die Namen der vielen Frauen zu nennen, die sich dem aktuellen Irrsinn, den Ungerechtigkeiten und Wahnsinnigen entgegenstellen. Weshalb ich an dieser Stelle auch noch einmal den Namen der Person des Jahres 2024 nennen möchte:
Gisèle Pelicot.
Ich kann meine Ehrfurcht vor Gisèle Pelicot nicht gut genug beschreiben, aber ich bin sicher (ich hoffe!), dass ihr Mut Geschichte geschrieben und Frauen stärker gemacht hat. Wenn auch leider nicht sicherer. Dafür müssen wir alle sorgen, allen voran natürlich wir Männer.
Ich empfehle in diesem Zusammenhang gleich einen Text, den man aber nur lesen sollte, wenn man sich die Auseinandersetzung mit diesen ganzen erschütternden Dingen zumutet, und (das meine ich sehr ernst) das muss man nicht zwingend, denn das Leben ist im Moment erschütternd genug, und es wird nicht besser, wenn wir uns zu viel zumuten. Ihr müsst also nicht auf die folgenden Links klicken, ihr könnt den Absatz ohne Klick lesen und/oder zum nächsten Absatz weiterscrollen.
Ich meine den Text von Anna Wharton: What Would A Woman Do To An Unconscious Man If She Thought No-One Would Find Out? (Was würde eine Frau mit einem bewusstlosen Mann anstellen, wenn sie dächte, dass es niemand herausfinden würde?) in dem sie auch auf die Performance “Rhythm 0” von Marina Abramovic aus den 70er Jahren eingeht und natürlich eine Antwort auf die Titelfrage gibt.
Ja. Es ist echt sehr, sehr viel im Moment.
Manchmal zu viel.
Aber um Nick Cave trotzdem nicht allzu lange im Sessel sitzen zu lassen (obwohl er da beim Warten sehr süße Briefe schreibt):
Wir müssen weitermachen. Wir dürfen nicht aufgeben. Wir müssen weiter: hoffen. Darauf, dass alles nicht immer noch schlimmer wird. Darauf, dass den Überheblichen und Unanständigen ihr Lachen im Halse stecken bleiben wird. Darauf, dass das Gute, die Gemeinsamkeit und die Solidarität siegen werden und jede*r von uns einen kleinen Teil dazu beitragen kann.
Sieht es derzeit gut aus? Nein. Und wir bei uns zuhause und in Gesprächen mit Freund*innen diskutieren, streiten, überlegen, scheitern und verzweifeln am derzeitigen Zustand der Welt genauso wie bestimmt viele von euch, die das hier lesen. Aber wenn ich, wenn ihr, wenn wir daran etwas ändern wollen, dann müssen wir aus der Verzweiflung Hoffnung wachsen lassen. Sie kann der Motor dafür sein, Angst hinter uns zu lassen, uns zu wehren und die Dinge wieder besser werden zu lassen.
(Eine Prise Wut dazu hilft bestimmt auch.)
Ich habe so lange nicht geschrieben, weil ich einfach nicht Teil dieses immer stärker werdenden Lärms da draußen sein möchte. Es gibt so viele klügere Stimmen als meine, ihr lest sowieso täglich so viele Schlagzeilen, Meinungen und Analysen, steht genauso wie ich unter Dauerbefeuerung der Medien … ich glaube wirklich nicht, dass ihr meinen Senf nun auch noch braucht.
Aber.
Ich merke bei mir selbst, wie sehr es mir hilft, auch mal Leute zu lesen, zu sehen, zu hören, bei denen man denkt: Ach guck mal, sind doch nicht alle total bekloppt, das ist ja schön. Und ich wäre gerne einer von denen, bei denen man das denkt.
Ich wünsche mir also, dass ihr das hier lest, vielleicht zwischendurch mal kurz lächelt, den Newsletter eventuell sogar mal an gute Freund*innen weiterleitet und einfach denkt: Ja, alles zur Zeit nicht so einfach, aber wenigstens bin ich nicht die einzige Person, der es dabei nur mitteltoll geht.
Viel mehr kann ich nicht versprechen, und ehrlich gesagt nicht einmal das. Meine Laune ändert sich täglich.
Let Wohlwollen rule!
Und lasst uns Wehrhaftigkeit lernen.
In Hoffnung, bis bald –
Johnny
P.S. Als nächstes drehe ich doch nochmal eine 2024er Musik- und Kultur-Empfehlungsrunde, die nächste Ausgabe, die hoffentlich vor 2026 erscheint, wird also etwas leichter.
Wenn nichts dazwischenkommt.
Deine Stimme zu lesen, ist wie ein gemütliches Wohnzimmer. Selbst wenn die Stimme schreit "Ich bin zu fett und alle sind wahnsinnig!"
Danke dir. <3
Hey Johnny, schön von dir zu hören – aber noch schöner, dass du mit dem Rauchen aufgehört hast! „Ohne Rauch geht’s auch“ – das stand früher auf den Plakaten.
Gestern ist ein Bekannter an Lungenkrebs gestorben. Gerade mal 54. Letztes Jahr eine gute Bekannte mit 59 – auch Lungenkrebs. Beide haben ordentlich geraucht, beide „gut gelebt“. Und beide haben am Ende gesagt: „Hätte ich früher aufgehört, hätte ich vielleicht noch ein paar Jahre mehr gehabt.“
Wer weiß… vielleicht hast du das „früher“ noch erwischt. Und so haben deine Kids ein paar Jahre länger ihren Dad. Nicht zu rauchen macht einen Unterschied auch wenn du es jetzt vielleicht noch nicht merkst. Bleib tapfer.
Liebe Grüße, Andy .