In dieser Ausgabe gibt es einen späten Rückblick auf das Konzert von Bruce Springsteen im Berliner Olympiastadion, am Ende ein paar Link-Empfehlungen und insgesamt erstaunlich viele Fußnoten.
Bruce Springsteen, Olympiastadion, 11. Juni 2025
Als ich noch jung war und mein musikalischer Horizont an der Straßenecke endete, an der ich wohnte, war Bruce Springsteen für mich weniger der Rock’n’Roller, der er war, sondern eher sowas wie ein gewaschener Hippie. Also irgendwie einer von früher, aber immerhin nicht stinkend. Denn Born to Run hatte ich gehört und ganz gut gefunden (okay, sehr gut), aber dann kam halt Punk, und Hippies und alle anderen von früher stanken.
Meine nächste Begegnung mit Springsteen fand erst wieder statt, als manche Mädchen in der Schule für das Album The River schwärmten, und manche Mädchen in der Schule waren eben Hippiemädchen. Die aber nicht stanken. Im Gegenteil. Also fand ich das auch ganz okay. Aber mehr auch nicht.
Nebraska ging dann aber an mir vorbei, es folgte das Album Born in the USA, und da musste man ja erstmal herausfinden, ob Springsteen einer dieser viel zu patriotischen Ami-Deppen war, fand aber heraus, dass er das nicht war, und konnte daher diesen 80er-Jahre-Klassiker (ein bisschen heimlich) gut finden.
In den folgenden Jahren lernte ich, wie sehr sich Joe Strummer (der ja in Wirklichkeit auch Hippie war und bei dem ich in einigen Lebensphasen aufs Gutriechen nicht gewettet hätte) auf Bruce Springsteen bezog – manche Posen, manche Outfits, vor allem aber die Vorliebe für die Fender Telecaster und die Art, sie zu spielen, dieses schrammelnde (naja, eben strummende), perkussive Eindreschen auf die Saiten, während ein Bein im Rhythmus stampft1 … aus vielen Gründen freundeten sich die beiden wohl später auch an.
Mir wurde dann beim näheren Kennenlernen des springsteenschen Gesamtwerks, allerspätestens aber nach den Grammy Awards 2003, bei denen Springsteen gemeinsam mit Little Steven, Dave Grohl, Elvis Costello und anderen London Calling zu Ehren des gerade verstorbenen Joe Strummer spielte, endgültig klar, dass der schon echt ziemlich sehr gut war, dieser Typ mit dem blöden Spitznamen The Boss. Der 2009 dann sogar sein Konzert im Hyde Park London Calling nannte, das er mit dem gleichnamigen Song in einer sehr lahmen Version eröffnete.
Aber mit eigenen Augen und Ohren live erlebt hatte ich Springsteen bis zum 11.6.2025 nicht.2 Dieses Konzert war also mein erstes Mal Bruce Springsteen in echt. Und ja. Das war ein beinahe spirituelles Erlebnis. Es ging mir danach für einige Tage wirklich gut, ich fühlte mich moralisch gestärkt. Ich liebte Musik wieder neu. Ich hatte mir ein Bruce-Springsteen-Sweatshirt gekauft, das ich vermutlich außerhalb meiner Couchlandschaft nie anziehen werde, doch ich wollte etwas von diesem Abend mitnehmen, wollte etwas davon behalten und ich wollte dafür sorgen, dass Bruce Springsteen wirklich niemals finanzielle Sorgen haben muss.
Dabei ist nichts von dem, was Springsteen und die E Street Band da im Olympiastadion gemacht haben, neu. Natürlich ist die ganze Show inklusive der Publikumsinteraktionen komplett durchgeplant, die Songs sitzen (auch das ist nach den vielen Jahrzehnten des gemeinsamen Krachmachens eine Selbstverständlichkeit, aber es ist doch auch immer wieder eine große Freude, eine perfekt eingespielte Band zu hören und zu sehen, die immer noch Spaß an ihrem Job zu haben scheint), und obwohl ich hinterher von Sound-Beschwerden gelesen habe, fand ich auch die Akustik völlig okay für ein Stadionkonzert. Keine Überraschungen also, und doch war das Ganze etwas Besonderes. Ich glaube, es hatte mit der Zeit zu tun, in der wir leben, mit der sich immer weiter verbreitenden Hoffnungs- und Orientierungslosigkeit, dem Frust, der Müdigkeit, der Verwirrung, der Hilflosigkeit. Und dem daraus resultierenden Wunsch nach … nach …
Bruce Springsteen.
Um exakt 19:00 Uhr stehen Boss und Band auf der Bühne und es geht – ungewöhnlich für ein Konzert dieser Größenordnung, aber nicht für diese Tour – mit einer kurzen Rede los. Springsteen liest sie vom Teleprompter ab, denn sie ist wie ein paar andere Parts und Songs der Show deutsch untertitelt, alles soll stimmen (außerdem ist der Mann 75 Jahre alt, in dem Alter werde ich froh sein, wenn ich meine Adresse fehlerfrei aufsagen kann).
Noch bevor also der erste Ton erklingt, beschwört Springsteen die “Kraft der Kunst, der Musik, des Rock’n’Roll in gefährlichen Zeiten”. Er bezeichnet die aktuelle US-Regierung als “inkompetent und verlogen”. Er ruft dazu auf, die Stimmen gegen Autoritarismus zu erheben und Freiheit erklingen zu lassen. Und dann geht er mit “I hear the sound of your guitar” vom Sprechen ins Singen, vielleicht sogar ins Predigen über, es ist die erste Zeile von Ghosts, dem Song, den Springsteen für seinen Jugendkumpel George Theiss geschrieben hat. Die ganze Band setzt ein und ich muss zum ersten Mal tief seufzen, denn ich habe sie lange nicht mehr so gespürt wie in diesen Sekunden, die Kraft des Rock’n’Roll. Es ist bewegend.
Lacht ruhig. Mir egal. Noch ein paar Mal erwischt es mich während dieses Konzerts, nicht nur, aber auch wegen der grandiosen Setlist. Die Kombination von Rede und Musik baut Springsteen nach dem ersten Block des Sets erneut ein, diesmal dauert es rund fünf Minuten, er geht ins Detail, spricht u.a. von einer “Schurkenregierung”. Und gegen Ende, nach einem Zitat von James Baldwin3, gleitet die Band mit Springsteens Worten “So let us pray” in den Bläsersatz-getränkten Soul von My City of Ruins. Fantastisch.
Ich hatte einen eher mittelmäßigen Platz und musste meine auf 1-2-3-4 mitklatschende und über Born in the USA hinaus nicht sehr songsichere Allwetterjacken-Umgebung etwas ausblenden, um das Konzert wirklich genießen zu können. Aber ich hab’s geschafft, mich auf diesen 75-jährigen, extrem gut gekleideten, und zu Recht legendären Typen zu konzentrieren, und meine Güte, da standen eben auch mal eben diese ganzen anderen Legenden wie Nils Lofgren, Steven Van Zandt, Patti Scialfa4 auf der Bühne, da saß ein immer noch irre gut und kraftvoll trommelnder Max Weinberg am Schlagzeug, der auch schon Mitte 70 ist … irre.
Und so konnte ich an diesem Abend ganz entspannt mein eigenes Alter5 genießen und mich fragen, warum so wenige andere US-Mainstream-Künstler*innen ernsthafte und über ein gelegentliches “Fuck …” hinausgehende Haltung zeigen zu dem, was da drüben (ich weiß, nicht nur dort) gerade passiert. Man könnte behaupten, dass es sich nur Leute wie Springsteen leisten können, Position gegen die Trump-Regierung zu beziehen, aber das ist natürlich Quatsch. Ein nicht unerheblicher Teil seines Publikums durfte recht konservativ sein, und auch, wenn Springsteen es natürlich finanziell verkraften kann, einen Teil seines Publikums zu verlieren (schließlich habe ich ein Sweatshirt gekauft), verprellt kein*e Künstler*in gerne seine Leute.
Wir brauchen mehr Kunst, die deutliche Worte findet. Auch hierzulande.
Bruce Springsteen und die E Street Band im Olympiastadion Berlin: Awesome.
Hier könnt ihr das ganze Konzert in einer YouTube-Playlist sehen.
Am nächsten Abend war ich bei Primal Scream, aber über dieses und die anderen Konzerte der letzten Zeit schreibe ich in weiteren Newslettern.
Hier zum Schluss noch ein paar
Links, die euch gefallen könnten
Wer wie ich auf der Suche nach fitnessstudiofreien und wenig anstrengend klingenden Sportarten ist, wird vielleicht beim Japanese Walking fündig (falls der Link nicht funktioniert, probiert diesen hier).
Falls ihr den Eindruck habt, die skandalöse Geschichte um die (Nicht-) Wahl der Richterin Brosius-Gersdorf bzw. um die Kampagne gegen sie nicht genug auf dem Schirm zu haben, gibt euch der Deutschlandfunk eine gute, wenn auch erschütternde Übersicht.
Die taz hat einen langen, lesenswerten Text über den Verleger Holger Friedrich (u.a. Berliner Zeitung), das ist aber leider auch nichts für bessere Laune, seid also gewarnt.
Spannend und erfrischend anders frustrierend: Ein Memo vom damaligen Managing Editor der Washington Post, Bob Kaiser, aus dem Jahr 1992 an seine Kollegen. Kaiser berichtete von einer Konferenz in Japan und sah die wichtigsten Entwicklungen in Sachen Medienhäuser und Digitalisierung voraus. Gefunden habe ich den Link bei Christian Ihle.
In diesem Threads-Thread (hehe) beklagt jemand den Verlust von Farbe,
aber ich beklage jetzt erstmal gar nichts weiter, obwohl es doch so viel zu beklagen gibt.
Stattdessen:
Bis bald.
Stay safe.
Stay hungry.
Don’t kill.
Johnny
Ich bekenne mich schuldig, diese Schule des Telecaster-Posings später selbst übernommen zu haben.
Vor einem Jahrzehnt hatte ich zwar Tickets für das 2016er Konzert gekauft, war aber damals krank geworden – und Springsteen vielleicht auch, wenn man sich die Videos vom Gig ansieht. Aber seitdem ich eben diesen Mitschnitt von 2016 gesehen und dabei festgestellt habe, dass Springsteen damals mit 66 Jahren wesentlich älter wirkte und schlechter sang als jetzt mit 75, frage ich mich, ob ich auch was von dem haben kann, was er jetzt bekommt.
Springsteen zitiert Baldwin mit “There is not as much humanity in the world as one would like to see. But there is enough”. Nach einer schnellen Recherche ist das eine leichte, meiner Meinung nach völlig legitime Abänderung von “There may not be as much humanity in the world as one would like to see. But there is some. There's more than one would think.” Aber ich weiß trotz Internet leider immer noch nicht, wo Baldwin das geschrieben oder gesagt hat, vielleicht kommt das Zitat im Film Meeting the Man – James Baldwin in Paris von 1970 vor, den ich noch nicht ganz gesehen habe. Und ich bin etwas erschüttert, dass mir YouTube nach der Sucheingabe “James Baldwin” zuerst die Videos eines gleichnamigen YouTubers anzeigt, der über Autorennen lamentiert.
Ich Trottel. Patti Scialfa war gar nicht dabei. Sorry. Es war Soozie Tyrell. (Danke, Thomas, danke, Rainer!)
Wenn es abgesehen von den geliebten und liebenden Menschen etwas gibt, wofür ich wirklich dankbar bin in meinem Leben, dann sind es die grandiosen musikalischen Zeiten, die ich erleben durfte. Ich war Zeitzeuge des Entstehens von so viel fantastischen Musikentwicklungenund Bands … voll gut.
Hier der fehlender Link zum Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/wie-kampagne-von-rechts-die-wahl-von-brosius-gersdorf-ins-bverfg-verhindert-hat-100.html
Nachtrag zu FIL, für den Fall, dass von Interesse: Ich erinnere mich, bei ihm über einen längeren Zeitraum ebenfalls Hippie-bashing beobachtet zu haben. Irgendwann, in einem Interview oder in einem seiner autobiografischen Bücher, erzählte er, wie es zu seiner Hippie-Skepsis kam. In seiner (= unserer) frühen Jugend war Hippietum noch Jugendkultur, jedenfalls, was die Äußerlichkeiten betraf. Und bei FILs jugendlichen Anschlusssuche in dieser Szene stieß er absurderweise auf: die größte Arroganz und Hochnäsigkeit around. Dies begründete bei ihm die nachhaltige Hippie-Abneigtheit. You never walk alone. Arroganztraumatisierung durch stylish-narzisstische "Coole" in Hippieklamotten ist mir zwölfjährig auf dem Schulhof übrigens ebenfalls widerfahren. Andere (auch recht nachhaltige) Geschichte.
Dennoch zucke ich heute noch zusammen, wenn Undercut-Comedian F. Lobrecht in seiner publikumsprämierten Bühnenshow über "Scheißhippies" herumätzt.